HELLO WHISKEY SOUR, MY OLD FRIEND!

Vor kurzem fuhr ich, wie so oft, Richtung Frankfurter Flughafen. Unterbewusst zappte ich durch die üblichen Radiostationen. Nachrichten vermischen sich mit Werbejingles, Songs verschwinden im Grundrauschen der Belanglosigkeit. Station für Station, nichts bleibt hängen, nichts durchdringt die Monotonie der Fahrt. Bis plötzlich – da ist sie. Diese eine Melodie, die sofort das Herz erwärmt, wie ein alter Bekannter, der unerwartet vor der Tür steht. Simon & Garfunkel. Die ersten Gitarrenakkorde von “The Sound of Silence” füllen den Raum, und Paul Simons vertraute Stimme schneidet durch Jahre hindurch: “Hello darkness, my old friend. I’ve come to talk with you again..”. Augenblicklich öffnen sich Erinnerungen wie Schubladen, die lange verschlossen waren. Das ist das Wunder vertrauter Klänge – sie brauchen nur Sekunden, um unsere Erinnerungen zu aktivieren. 

Genau dieses Gefühl überkommt mich regelmäßig, wenn ich eine Bar betrete: gedämpfte Stimmen, nicht zu helles Licht, das warme Material des Tresens. Routinierte Handgriffe der Barkeeper schaffen eine Atmosphäre, die vertraut ist. Ich lege die Barkarte zur Seite, ohne sie zu öffnen. Ich habe keine Lust auf Premix oder Milkpunches. “Einen Whiskey Sour, bitte.” Die Worte kommen automatisch, wie ein Reflex, der tief in meinem Unterbewusstsein verankert ist. Der Whiskey Sour ist einer der ersten Drinks, die ich je geliebt habe. Ich habe ihn in den 1990er Jahren zum ersten Mal probiert und in den unterschiedlichsten Variationen getrunken. Für mich ein persönlicher Benchmark, um zu entscheiden, wie die Bar in meinem persönlichen Ranking abschneidet.

Der Sour zählt zu einem der ältesten Cocktails der Welt, der 1862 erstmals schriftlich im Bartender’s Guide von Jerry Thomas dokumentiert wurde. Der Whiskey Sour als solcher wurde zuerst 1870 in einer Zeitung aus Wisconsin erwähnt. Zumindest, dass ein “Whiskey Sour” bestellt wurde. Die Grundformel ist von bestechender Einfachheit: Spirituose, Zitronensaft, Zucker. Drei Zutaten, die zusammen mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Der Bourbon bildet das Fundament mit seinen warmen Vanille- und Karamellnoten. Der frische Zitronensaft bringt die nötige Säure, die den Alkohol zähmt und dem Drink seine charakteristische Frische verleiht. Der Zuckersirup schließlich rundet die Kanten ab und verbindet die Aromen zu einer harmonischen Einheit. Die Verwendung von Eiweiß begann, entgegen der üblichen Mythen, erst Mitte der 20er Jahre des
vergangenen Jahrhunderts. Um die Textur des Cocktails zu verbessern, sprach sich ein gewisser Robert Vermiere für die Verwendung von „ein paar Tropfen Eiweiß“ aus. Erst nach der Prohibition verbreitete sich diese Stilistik und galt seither als die populärste. Traditionell wird er auf Eis geschüttelt und in einem Coupé-Glas serviert, oft garniert mit einer Maraschino-Kirsche und einer Orangenscheibe. Die Variante auf Eis im Old Fashioned-Glas ist jedoch tatsächlich mein Favorit.

Der Whiskey Sour ist für mich wie ein Lieblings-T-Shirt, das nach Jahren immer noch perfekt sitzt. Wie eine Schallplatte, deren Rückseite man auswendig kennt, jeder Ton im Gedächtnis eingebrannt und doch nie langweilig ist. Er ist der Soundtrack zu unzähligen Abenden, der treue Begleiter in Bars, von überfüllten Kneipen bis zu eleganten Hotel-Lounges. Jeder Schluck trägt die DNA vergangener Gespräche, gelöster Anspannungen und neuer Bekanntschaften in sich. Wenn die ersten Tropfen den Gaumen berühren – diese perfekte Balance aus süß, sauer und stark – dann ist es, als würde eine vertraute Stimme flüstern: “Hello Whiskey Sour, my old friend. I’ve come to talk with you again…